BERLIN 30.11.
Keine böse Absicht, liebe Katharina,
daß ich in Deiner DOK-FILM-FESTIVAL-Koje nicht auftauchte. Vielen Dank für die freundliche Einladung, ich hätte auch gern um einen Kaffee mit Dir gesessen und wieder großmäulig räsoniert, Anlässe & Material hat es sicher viele. Der Reichsbahnstreik zu Wochenbeginn, ein Akt höherer Gewalt, aber brachte meinen ganzen Wochenablauf zu Fall; in Leipzig bin ich dann, nur mehr symbolisch, bloß Dienstagabend gewesen. Den Rest der Woche brauchte ich in Berlin, um in etlichen Redaktionen hier verlegter Tageszeitungen eine Befragung abzuhalten, die unsere Uni gemeinsam mit EMNID unternimmt, es geht ums Rollenverständnis meiner lieben Kollegen. Nun gewinne doch aber mal einen Redakteur, der um sein Leben schreibt, für eine gute halbe Stunde Fragebogenkreuzerei – non possumus. Langer Ausrede kurzer Tiefsinn, obwohl ich Dich gern im Peterhof aufgescheucht hätte, hockte ich – die Umstände! – gelähmt in der Hauptstadt.
Im übrigen fühle ich mich – sick of it all oder was – konstitutiv recht wenig mächtig derzeit, geheime Instanzen meiner Physiologie nehmen mir meinen unsteten Lebenswandel übel. Einer Wilderei am Wochenende wegen, knapper Nachtschlaf und verdrehter Kopf, bin ich etwas von der Rolle. Sicher wirst Du sofort etwas von „erweiterter Treuebegriff“ durch die sarkastisch gespannten Lippen drücken, jaja, is recht; man braucht aber auch seinen Auslauf, halte ich müde dagegen, offenbar aber gibt sich mein Fleisch konservativer als mein Freimut. Und nicht mal letzteren weiß ich mir sicher. Eine Art Gewissen taucht sporadisch auf. Der reine Spaß war die Begegnung mit SWEET SEVENTEEN offensichtlich doch nicht, die Sache hat einen Haken, der die dünne Decke über – vielleicht – einer Leere aufreißen kann, die manchmal in einem Leipziger Internatszimmer herrscht. Was ich hier aufschreibe, erschreckt mich schon wieder: ich werde den Teufel tun, die dunkle Ahnung dichter an mich heranzulassen. Gerade hatte ich mich gewöhnt. Die Spielregeln schienen festgelegt, ich konnte mich bewegen. Jetzt frißt mich was auf. Wenn ich mich teilen könnte.
Angefangen hat die süße Tändelei, holla, in Regensburg, woselbst ich die Dämlichkeit besaß, den „Jungautorentagen“ beizuwohnen, und zunächst nur denen. Du erinnerst Dich, jener Talentewettbewerb bis 25, zu dessen Finale ich ungeladen frech anreiste – meine Texte können übrigens unmöglich juriert worden sein: wie ich erfuhr, lag der Juryschluß sehr früh. Den einen Tag führte man eine Lesung der 25 vorgeblich Besten vor, die mir Schauer des Grauens über den krummen Rücken jagte. Da war der verkrachte Philosophieseminarist, der in der Pubertät mal undeutlich was von POSTMODERNE und TRANSZENDENZ gehört hatte und dies nun unverdaut wieder ausschied. Da war, im Kollektiv, der deutsche Brachialpoet, der mit lyrischen Kraftwörtern warf und bei dem es ohne platzende, nein, explodierende Eitergeschwulst im Hirn (im Text) nicht abging. Und da war der Gefühlszerwühlte, der mit den sechs Buntstiften seiner Phantasie Staub, Kirschen und Blut zusammenkritzelte. Es trat auf der angestrengte Naivling mit den Gesten eines Feldherrn, es entblödete sich der hastige Bukowski-Epigone mit einem Ginsberg-Poem, überfüllt mit coolen Anglismen, dem schönen Wort BLUES und einem spätestens seit 1969 abgegessenen BEAT-GENERATION-Stil. Ich hätte den Jünglingen und Mägden dutzendweise die Köpfe einhauen mögen, schon, weil ich keinen Preis bekam, sonders diese schmierigen Hinterstubenschreiberlinge, deren Lyrikhorizont bei Friederike Kempner endet. Huah. Zwischendrin erfolgte noch eine Sonderpreisvergabe im Wettbewerb „Verkehrssicherheit“, ich schließe vor diesem Szenario den Vorhang der Barmherzigkeit, aller Milde, die ich erübrigen kann. Es war zu peinlich. 75 % aller alljährlichen „Schweriner“ waren besser als diese Laschis.
Anderntags sollten die Nichtbedachten lesen, erstaunlicherweise hörte man hier plötzlich Arbeiten, die im Niveau die Beiträge der Prämierten weit hinter sich ließen. Indes widerte mich auch hier an, wie publizitätserpicht die jungen Autoren sich gaben, kaum hatte einer die streng limitierten fünf Minuten mit seiner Schuttabladung verbracht, sprang ans Pult der nächste, der es uns aber mal so richtig zeigen wollte. Zwischendurch eilten Kellner die Tische entlang und nahmen die Bestellungen fürs Mittagessen auf. So kam es, daß diese Autorentage keinen Beitrag von mir erfuhren, und jetzt noch tritt mir tiefnachts der kalte Schweiß auf die Platte, denke ich daran, jemals Manuskripte in die schmuddeligen Hände der Juroren gegeben zu haben. Letzte Meldung: Als einer in der Diskussionsrunde einen Prosatext gelesen hatte, der mir ganz gelungen vorkam, kommentierte den ein weibliches Jurymitglied wie folgt: „Also, ich weiß nicht, für einen Jungautoren ist mir das zu reif.“ Keine weiteren Fragen, Herr Staatsanwalt.
Übrigens: es gelang mir erfolgreich, mir einzureden, Regensburg sei eigentlich eine sehr schöne Stadt, habe einen bezaubernden mittelalterlichen Kern und ein herziges Donauufer. Es hat sich also gelohnt. Bittere Lehre: Mach für Dich, was Du zu tun müssen glaubst, diese Kriecherei um behördliche Anerkennung Deines Talents macht Dich nur kleiner. Ich will also vorerst nicht mehr lesen oder an irgendwelchen Wettbewerben teilnehmen.
Beiliegt eine Ablichtung aus der Frankfurter Rundschau. Mein Vater und vor allem seine Frau hatten während ihres Italien-Aufenthaltes alles an Briefen gesammelt, was ihnen aus der alten Heimat zuging und ihr Bild von den Vorgängen dort bestimmte – das Geschehen hinter der Zeitungsnachricht. Ein Jornalistenkollege von der FR hatte von den Briefen in einem Gespräch erfahren und Vater’s Frau Bärbel gebeten, sie veröffentlichen zu können. Hier sind sie, „Robert“ = Bruder Ralf, „Florian“ = Bruder Frank, „Johannes“ = ich. Einiges davon müßtest Du kennen, die Passage über die Leipziger Demo hatte ich auch Dir seinerzeit aufgeschrieben. Im überschauenden Rückblick schmerzt mich das Lesen. Hier steckt ein sehr persönlicher Lernvorgang drin, wäre das Wort nicht vernutzt, ich würde von einer Art „innerer Wende“ sprechen, immer gekontert von der erworbenen Denkträgheit und dem Trotz, den ich den mir erst kaum verständlichen, mich permanent zu beleidigen scheinenden Abläufen entgegensetzte. Gegen die Annullierung von 23 Lebensjahren ein Aufbegehren. Komik ist drin, die das eigentlich Tragische manchmal erst aufblendet. Jedenfalls bin ich noch lang nicht fertig mit dem, was hier steht.
Jetzt habe ich mich wieder mal eingehend aufgeblättert und viel zu wenig Fragen gestellt. Immer besser, man unterhält sich als Gegenüber. Die Gelegenheit Leipzig ist leider vertan. Ich hoffe, es ergibt sich wieder was, auch eine Möglichkeit, die von Dir avisierten „interessanten facts“ (DEFA, HFF?) zu hören. Alsdann, die besten Grüße –
Jens.